CTPSO - Abstract

Die Erforschung der Wahrnehmung post-tonaler Musik wurde von der Musiktheorie und verwandten Disziplinen weitgehend vernachlässigt. Allgemein tendieren Musiktheorien dazu von statischen Modellen struktureller Hierarchie auszugehen, die allerdings für das Verständnis post-tonaler Stile meist unzureichend sind. Die Vielfalt post-tonaler Musik und die Beobachtung, dass die Wahrnehmung post-tonaler Strukturen hochgradig von musikimmanenten und -externen Kontexten abhängt, provoziert die Frage, wie eine kontextsensitive Theorie post-tonaler Musik formuliert werden könnte.

Das vorliegende Forschungsprojekt reagiert darauf mit einer nicht-universalistischen, kontextsensitiven Theorie post-tonaler Klangorganisation, die unterschiedliche Facetten des post-tonalen Repertoires berücksichtigt. Die vorgeschlagene Theorie reflektiert drei Typen post-tonaler Kontexte: (1) musikimmanente Kontexte durch ein adaptives Modell der Musikwahrnehmung, in dem Klangereignisse während wie auch nach dem Hörvorgang je nach Kontext verschieden kategorisiert werden können; (2) subjekt-spezifische Kontexte durch die Integration unterschiedlicher konzeptueller und auditiver Perspektiven, anstelle der Annahme eines »idealen« Hörers; der Haltung einer »performativen« Musiktheorie und -analyse folgend wird so ein breites Spektrum von Hörstrategien für post-tonale Musik eröffnet, ohne dass ein vereinheitlichtes Modell favorisiert würde; (3) interpretatorische Kontexte durch Vergleiche unterschiedlicher Ausführungen desselben Werks und einer Diskussion der Relevanz aufführungspraktischer Interpretation für die perzeptuelle Organisation.

Unsere Theorie greift wahrnehmungsbezogene Ansätze aus den Bereichen Musiktheorie (Hanninen, Ockelford), Musikpsychologie (Déliège) und Kompositionstheorie (Lachenmann, Schaeffer) auf und vermittelt dadurch zwischen Theorie und empirischer Forschung, etwa indem Analysen post-tonaler Werke elementare Wahrnehmungsvorgänge (Kontur, Streaming, Segmentierung etc.) und Prinzipien des »entdeckenden Lernens« während des Wahrnehmungsvorgangs prominent berücksichtigen.

Das Projekt ist in drei Forschungsfelder unterteilt: (1) Eine umfassende Auswertung historischer Theorien musi­ka­lischer Wahrnehmung aus verschiedenen Disziplinen wird dabei helfen, den theoretischen Rahmen der Forschung fortgesetzt zu präzisieren. (2) Detaillierte Analysen repräsentativer post-tonaler Werke, die auf skizzen- und partiturorientierten sowie auf computergestützten spektralen Methoden basieren, bilden das Zentrum des Projekts und tragen zu einer Ausarbeitung morphosyntaktischer Module bei. Die Idee einer post-tonalen Morphosyntax geht davon aus, dass gestalt- und zeitorientierte Verhältnisse zwischen Klangereignissen, -folgen und -transformationen, abgeleitet aus der musikalischen »Oberfläche«, elementare Schichten musikalischer Bedeutung konstituieren, die über rein »musikimmanente« Strukturen hinaus weisen. Durch diesen Ansatz wird es möglich, Wechselwirkungen zwischen lokaler morpholo­gischer Organisation, syntaktischer Zusammenhangsbildung, Groß­form und kontextueller Bedeutung aufzu­zeigen. Das so entstehende Netzwerk morphosyntaktischer Module steht für ein flexibles, aber kohärentes Spek­trum von Hörstrategien, das offen für Differenzierung bleibt und auch Modelle für empirische Forschung bereit stellten kann. (3) Syste­ma­ti­sche Studien zu Wechselwirkung und Unterschieden zwischen tonaler und post-tonaler Musikwahrnehmung sowie auditiver Alltagswahrnehmung, in Kooperation mit Forschungspartnern entwickelt, schaffen vielfältige Interaktionsmöglichkeiten mit den beiden anderen Forschungsfeldern.

CTPSO - Endbericht

final report [PDF-download, öffentliche Fassung, 2015-01]